• Sa. Apr 27th, 2024

BGH überdenkt Diesel-Leitlinien: Was bedeutet das?

Im Bundesgerichtshof muss die ehemalige Rechtsprechung zum Dieselskandal neu gedacht werden. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Uli Deck/dpa)

Alles auf Anfang im Dieselskandal? Das nun nicht – aber plötzlich ist wieder vieles offen. Denn der Europäische Gerichtshof (EuGH) verfolgt eine wesentlich käuferfreundlichere Linie als der Bundesgerichtshof (BGH) bislang.

Ein diesbezügliches Urteil muss der BGH nun auf deutsches Recht umlegen. Inwieweit schwenken die Karlsruher Richter auf die Vorgaben des EuGH ein? Und wer könnte profitieren?

Wie war die Ausgangslage?

Der BGH hat Hunderttausenden Betroffenen des VW-Abgasskandals den Weg zu Schadenersatz geebnet. Aber seit seinem ersten und wichtigsten Urteil aus dem Mai 2020 galt stets: Ansprüche hat nur, wer vom Autobauer über den Schadstoffausstoß auf sittenwidrige Weise getäuscht wurde.

Beim VW-Skandalmotor EA189 war das der Fall. Denn hier wurde eine Betrugssoftware so programmiert, dass die Autos in Behördentests in einen speziellen Modus wechselten – und dann weniger giftige Abgase freisetzten als tatsächlich im Straßenverkehr.

Was ist jetzt anders?

Ein Urteil aus Luxemburg rüttelt an der bisherigen BGH-Rechtsprechung. Denn der EuGH hatte die Hürden in einem Mercedes-Fall aus Deutschland im März deutlich niedriger angesetzt. Schadenersatz-Ansprüche könnten demnach schon bei einfacher Fahrlässigkeit entstehen – und nicht erst dann, wenn bewusst geschummelt und getrickst wurde.

Was heißt das für Dieselfahrer, die bisher leer ausgingen?

Sie könnten sich nun neue Hoffnung machen. Denn jetzt muss sich der BGH auch mit den temperaturgesteuerten Abschalteinrichtungen befassen, bei denen er wegen fehlender bewusster Täuschung des Verbrauchers bisher keine Veranlassung für Schadenersatz sah: Thermofenster zum Beispiel.

Sie drosseln je nach Außentemperatur die Verbrennung direkt im Motor oder fahren sie sogar ganz herunter – um den Motor zu schützen, wie die Hersteller sagen. Kritiker werfen ihnen vor, auch hier darauf geschaut zu haben, dass die Autos die Grenzwerte vor allem unter Test-Bedingungen einhalten.

Thermofenster sind in unterschiedlicher Bandbreite in Millionen von Autos verbaut. Auch andere Funktionalitäten, durch die die Abgasreinigung nicht durchgängig gleich funktioniert, stehen nun im Fokus.

Wie könnte ein Schadenersatz aussehen?

Das ist eine Frage, die den BGH bei der mündlichen Verhandlung am 8. Mai über fünf Stunden hinweg beschäftigte. Diskutiert wurden verschiedene Szenarien: Das unwahrscheinlichste dürfte der sogenannte große Schadenersatz sein.

Das würde Rückabwicklung des Kaufes und Rückerstattung des Kaufpreises bedeuten. Wahrscheinlicher schien aber nach erster Einschätzung des Senats, eine Art «kleineren» beziehungsweise «mittleren» Schadenersatz festzuzurren.

Das heißt?

Dass es auf die Berechnung des Minderwertes ankommt: Also die Differenz zwischen einem funktionsfähigen Auto ohne eine möglicherweise unzulässige Abschalteinrichtung und dem unwissentlich tatsächlich erhaltenen Auto mit der Abschalteinrichtung.

Wie soll das errechnet werden?

Das ist ziemlich kompliziert. Denn was ist eine unzulässige Abschalteinrichtung? Alle Thermofenster oder nur die, die sich außerhalb einer bestimmten Temperatur-Bandbreite bewegen? Und ist ein Auto mit unzulässiger Abschalteinrichtung, die dann aber mit Software-Updates entfernt wurde, wirklich weniger wert, als ein Auto, das von vornherein keine Abschalteinrichtung hatte? Und wenn ja, wie soll der Minderwert dann in Euro und Cent beziffert werden?

Und was ist mit Autos, deren Motoren erst nachträglich vom Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) beanstandet wurden oder bis heute eine Freigabe haben? Kann man dafür nur die Autohersteller haften lassen? Die Autobauer hoben bei der Verhandlung am 8. Mai beispielsweise auf den «unvermeidbaren Verbotsirrtum» ab – dass sie also beim besten Willen nicht hätten wissen können, dass eine Abschalteinrichtung nicht rechtens ist.

Der Dieselsenat muss eine pragmatische Antwort auf die Frage finden, wie getäuschte Dieselfahrer ohne unangemessenen Aufwand – etwa teure Gutachten – zu ihrem Recht kommen. Und er muss ein Prozedere finden, mit dem auch die unteren Gerichte einen Schaden mit vernünftigem Aufwand bemessen können. Derzeit liegen Tausende Verfahren wegen der unklaren Rechtslage auf Eis.

Lohnt es sich bald, auf jeden Fall zu klagen?

Das bleibt abzuwarten. Schon unter alter Rechtslage war es bisweilen so, dass ein erfolgreicher Kläger sich die gefahrenen Kilometer und die Nutzung des Autos anrechnen lassen musste – und unter dem Strich dann kaum Geld herausbekam. Die Vorgaben aus Luxemburg müssen in Deutschland zwar umgesetzt werden. Dabei hat der BGH aber einen gewissen Spielraum. Erst nach dem Urteil wird man wissen, wohin die Reise geht.

Von Anika von Greve-Dierfeld und Anja Semmelroch, dpa